Leseprobe – Kirschblüten im Schnee

Gabriel hatte nicht viele ausländische Kunden. Genau genommen hatte er sogar nur einen kleinen, jedoch festen Kundenstamm, der sich nur erweiterte, wenn er es wollte. Das kam allerdings selten vor, da er mit den jetzigen Kontakten, welche ihn regelmäßig buchten, vollauf zufrieden und ausgelastet war. Der Kunde, den er an diesem Tag besuchte, gehörte nicht zu seinem festen Kundenstamm. Er war aufgrund einer Empfehlung an die Agentur geraten, welche für Gabriel die Termine managte und hatte sich schließlich für Gabriel entschieden. Die Summe, die man ihm geboten hatte, war so unerhört hoch, dass er, als er sie am Telefon gehört hatte, für Sekunden annahm, man wolle ihn auf den Arm nehmen. Es war aber kein Scherz gewesen und nun, ganze sechs Stunden später, stand er in einem kleinen, vornehmen Fahrstuhl eines noch vornehmeren Hotels und fuhr in den achten Stock. Alles, was er bekommen hatte, war eine Zimmernummer, aber keinen Namen. Ein so penibles Arrangement konnte nur bedeuten, dass der betreffende Kunde aus der Politik kam, oder aber sich aus anderen Gründen ungern in der Öffentlichkeit bewegte. Gabriel versuchte solche Sachen für gewöhnlich zu meiden, denn der Aufwand kostete meist extra Zeit, welche in den seltensten Fällen bezahlt wurde. Aber in diesem Fall war das Geld einfach zu verlockend gewesen.
Dennoch hatte sich Gabriel gewundert, dass man sich ausgerechnet an ihn gewandt hatte, denn die Agentur, mit der er locker zusammenarbeitete, vermittelte außer ihm keine Asiaten. Genau genommen war Gabriel nur ein Halbasiate, denn seine Mutter kam aus Japan, sein Vater war jedoch Brite. Die asiatischen Gene hatten sich durchgesetzt, besonders was seine Haare und seine Gesichtszüge anging. Die schräggestellten Augen und fein geschwungenen, vollen Lippen wären bei kaum einem Europäer zu finden gewesen. Auch seine Statur war zierlicher und kleiner, als die eines durchschnittlichen Europäers Mitte zwanzig. Aber genau das war es, was seine Kunden an ihm mochten. Diese Zartheit, die nicht an eine dürre Bohnenstange erinnerte. Er war ein anziehender Mann, das wusste er.


Mit einem leisen Ton öffnete sich die Tür des Lifts, und Gabriel stieg aus. Ein Blick nach Rechts und Links, um zu klären, in welche Richtung er gehen musste, und dann ging es auch schon weiter. Der Flur war mit einem dicken Teppich ausgelegt, welcher keinen Zweifel daran ließ, dass man hier dem Gast das Gefühl geben wollte, auf Wolken zu laufen. Passend dazu waren die Türen der Suiten aus weißem Holz und mit Goldrändern verziert. Geöffnet wurden sie mit einer Karte. Zimmer 832 lautete die Nummer, welche die Agentur ihm gegeben hatte, und nach einem letzten Zupfen an seinem Haar klopfte Gabriel an. Es dauerte nur zwei Atemzüge, dann wurde die Tür geöffnet. Vor ihm stand ein bulliger Europäer, ziemlich groß und von jener Statur, die einem Schrank gut und gerne Konkurrenz gemacht hätte.
„Guten Abend, ich ...“, begann Gabriel, wurde aber auch gleich von dem muskulösen Kerl unterbrochen. „Komm rein, du wirst schon erwartet.“ Sein Akzent war seltsam, nicht wirklich Englisch, als wenn er sich sonst einer anderen Sprache bedienen würde. Zwar war Gabriel von der Begrüßung nicht sonderlich angetan, aber er trat ein und tröstete sich mit dem Gedanken, dass das auf jeden Fall nicht sein Kunde war. Alle Kunden von Gabriel hatten einen gewissen Stil und das war auch der Grund, warum sie ausgerechnet ihn buchten. Er strahlte das aus, was sie an sich selbst am meisten mochten.
Wie zu erwarten war die Suite edel eingerichtet, und Gabriel musste unwillkürlich darüber nachdenken, was sie wohl für die Nacht kostete. Nun auf jeden Fall mehr, als er selbst an diesem Abend verdienen würde, vermutete er und wurde in das Wohnzimmer des kleinen Reichs geführt. Spätestens dort wurden die Befürchtungen des Callboys bestätigt, dass es sich bei diesem Job um keinen gewöhnlichen Kunden handeln konnte. Im Raum waren noch zwei weitere Leibwächter. Sie trugen Waffen, die sich unter ihren Anzugjacken abzeichneten. Ein Leibwächter stand an der Tür und der andere saß auf einem Stuhl, gelangweilt in einer Zeitschrift blätternd. Wobei Gabriel bemerkte, dass bei einem ein Teil des kleinen Fingers fehlte. Wie bei einem Yakuza, fuhr es Gabriel durch den Sinn. Beide Männer hoben nur kurz den Kopf, um Gabriel flüchtig zu mustern, aber da von ihm offensichtlich keine Gefahr ausging, beachteten sie ihn nicht weiter. Das waren ganz sicher keine Leibwächter, die einen Politiker bewachten, stellte Gabriel für sich mit Bestimmtheit fest.


Auf einem Sofa saß ein dritter Mann. Sein Gesicht verriet ihn sofort als Asiaten, was auch erklärte, warum er Gabriel gebucht hatte. Er hatte sich auf das bequeme, aber nicht zu große, Möbelstück hingelümmelt und den Fuß in den edlen italienischen Schuhen auf dem kleinen Couchtisch vor sich abgestützt. Seine fast schwarzen Augen huschten über Gabriel, erfassten seine Gestalt und blieben schließlich an seinem Gesicht hängen. Einen Augenblick dachte Gabriel, dass er ihm nicht gefiel und zurückgeschickt werden würde, aber dann schnippte der Fremde mit den Fingern, und die drei Leibwächter zogen sich auf der Stelle, zurück. Wie dressierte Hunde, fuhr es Gabriel durch den Sinn, der sich nicht nach ihnen umdrehte.
Leise und dezent wurde die Tür geschlossen, ohne preiszugeben, ob die Leibwächter die Suite nun ganz verließen, oder sich einfach nur in einen anderen Raum zurückzogen, um das folgende, intime Miteinander nicht zu stören. Gabriel mochte keine Zuhörer bei seiner Arbeit und Spanner waren ihm noch mehr zuwider. Leider blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Frage diesbezüglich runter zu schlucken und zu warten, denn der Mann hatte weder einen Ton gesagt, noch sonst irgendwie erkennen lassen, was er wünschte. Da Gabriels Kunden sonst umgänglicher waren, irritierte ihn dieses Verhalten nicht wenig.


Es dauerte zwei Zigarettenzüge, bis ihn der Fremde ansprach. „Sprichst du Japanisch oder nur Englisch?“, fragte er ironischerweise auf Japanisch und winkte Gabriel mit der freien Hand zu sich. Zwar hatte der Angesprochene Japanisch gelernt, aber nicht gut genug, um einer ausführlichen Unterhaltung standhalten zu können, und darum schüttelte er nur leicht den Kopf, als er näher trat.
Erst jetzt konnte er einen genaueren Blick auf den Tisch werfen, und wieder wurde seine Befürchtung bestätigt, dass es besser gewesen wäre sich nicht von der horrenden Summe blenden zu lassen. Doch nun war es zu spät. Auf dem Tischchen standen, abgesehen von Blumen in einer Kristallvase, einem Champagnerkübel samt Inhalt und einem Glas, noch zwei Röhrchen mit bunten Pillen, sowie ein winziger Beutel mit weißem Pulver. Also vermutlich kein Politiker, sondern eher kriminelle Prominenz. Ganz sicher sogar Yakuza, schoss es Gabriel durch den Kopf. Er bemühte sich, keine Miene zu verziehen und beschloss, diesen Job schnell und gut zu erledigen, damit er rasch wieder verschwinden konnte.
„Dafür, dass du angeblich kein Japanisch sprichst, hast du mich aber erstaunlich gut verstanden. Aber okay, bleiben wir eben bei dem Englischen. Soll mir recht sein“, sprach sein Gegenüber weiter und streckte die Hand nach Gabriel aus, um ihn in einer raschen und kräftigen Bewegung neben sich auf das enge Sofa zu ziehen. Fast sofort schob er sich über Gabriel und legte ein Bein über Gabriels Schenkel, als würde er damit verhindern wollen, dass dieser sich einfach entziehen konnte. Für Gabriel blieb nicht einmal genügend Zeit, um über dieses Verhalten richtig irritiert zu sein, denn schon legte sich eine weiche Hand auf seine Wange, während das Gesicht seines Kunden ihm gefährlich nah kam. Die Augen eines Jägers, dachte Gabriel. Angst war nichts, was ihm in seinem Job unbekannt gewesen wäre, denn in der Vergangenheit hatte er manchmal wirklich schräge Kunden gehabt, aber dieser hier war mehr als nur einfach Angst einflößend.
„Du hast sehr schöne Augen ....“, murmelte der andere schon fast gegen Gabriels Lippen, während seine warmen Finger sich an der Halsschlagader hinab tasteten. Eine Gänsehaut breitete sich als Antwort auf die Berührung aus.
„Wie ist dein Name?“, hakte er weiter nach, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von ihm zu lassen.
„Gabriel“, war die neutrale, aber sehr leise Antwort. Gabriel benutzte eigentlich bei einmaligen Kunden, und dass dieser für ihn einmalig bleiben würde, stand für ihn schon fest, nicht seinen echten Namen, sondern ließ sie sich selbst einen aussuchen. Zum einen verschwendete ein solches Spielchen Zeit, zum anderen mochten es die Kunden, denn es gab ihnen ein gewisses Gefühl von Macht über ihn, selbst wenn es am Ende nur eine Illusion war. Hier war eine solche Illusion nicht nötig, denn der Mann hatte Macht über ihn. Der Kunde nickte leicht und wiederholte den Namen, wobei er sich ihn regelrecht auf der Zunge zergehen ließ.
„Gabriel. Ga-bri-el. Das ist ein Name aus der Bibel, nicht wahr? Einer der Engel hieß dort so ...“, sagte er nachdenklich und zog den Kopf ein wenig zurück, um Gabriels Züge genauer zu betrachten. „Er passt zu dir. Der schöne Gabriel. Ja, er passt zu dir“, sprach er weiter und begann endlich ihn zu küssen.


Was Gabriel von dem Kuss erwartet hatte, wusste er selbst nicht, und doch war er überrascht, als er die fremden Lippen auf seinen spürte. Sie waren voll und weich, angenehm warm und auf gar keinen Fall aufdringlich. Sanft umschlossen sie Gabriels Lippen, zupften an seiner Unterlippe, bis er aus einem wohligen Reflex heraus einfach seinen Mund öffnete und die Zungenspitze hervorlugen ließ. Er schmeckte Alkohol und den ganz leichten Geschmack von Zigaretten, was den Kuss anregend bitter und herb machte. Gabriel, der selbst nicht rauchte, hatte dies immer als etwas unangenehm empfunden, aber dieses Mal war es nicht der Fall.
Er spürte, wie die Hände seines Kunden weiter wanderten, sich bereits daran gemacht hatten seine Krawatte zu lockern und die Knöpfe seines dunkelvioletten Hemdes zu öffnen. Meistens tat Gabriel dieses selbst und zog danach den Kunden aus, aber hier schien sowieso nichts wie sonst laufen zu wollen. Er blieb lieber still und ruhig, überließ dem anderen die Aktivität, mit der Sicherheit in sich, dass dieser sich schon melden würde, wenn er mehr Einsatz von ihm wünschte.
Stattdessen gab er sich einfach den Küssen hin, welche ihn immer mehr in Stimmung versetzten, was eher selten geschah. Schließlich war das für Gabriel Arbeit und kein wirkliches Vergnügen. Immerhin hatte er quasi auf Knopfdruck zu funktionieren. Ein Dienstleister der besonderen Art. In den Kuss versunken, der mehr einem Zungenkampf gleichkam, entging ihm nicht, dass die tastenden Hände an seiner Taille halt gemacht hatten. Zwar wurde er weiterhin gestreichelt und liebkost, aber weder der Gürtel, noch der Reißverschluss wurden geöffnet. Diese Art von Zurückhaltung hatte er nicht erwartet.
Doch bevor Gabriel überhaupt die Möglichkeit hatte sich näher mit dem Grund des Stockens zu befassen, wurde der gierige Kuss abgebrochen. Vor Schreck riss er die Augen auf und erwartete in verärgerte Augen zu sehen, weil er vielleicht etwas falsch gemacht oder man sie unterbrochen hatte, aber dem war nicht so. Stattdessen hatte sich der andere von ihm abgewandt, nach einer der Champagnerflaschen gegriffen und füllte nun das rosafarbene, sprudelnde Gebräu in ein Glas. Als es halb voll war, ließ er eins der Röhrchen aufschnappen und eine zufällige Anzahl von den blauroten Pillen hineinfallen.
In Gabriel begann sich ein ungutes Gefühl auszubreiten, doch er hatte nicht einmal die Chance sich richtig aufzusetzen, da ihm das volle Glas mit den an der Oberfläche schwimmenden Pillen auch gleich an die Lippen gehalten wurde. Verdutzt starrte er seinen Kunden an, dessen Augen einen wilden Ausdruck angenommen hatten. Er erwartet doch nicht, dass ich das wirklich trinke, dachte Gabriel schon beinahe empört.
„Trink“, forderte der andere ihn jedoch sofort in einem Ton auf, der keine Widerrede zuließ. Gabriel zögerte, und es folgte umgehend ein weiteres „Trink!“, welches so bestimmt war, dass Gabriel nicht daran zweifelte, dass sein Gegenüber Gewalt anwenden würde, um ihn zum Trinken zu zwingen. Wie es aussah, hatte seine Passivität den Eindruck vermittelt, dass er nicht locker genug an die Sache heranging und nun sollte dem etwas nachgeholfen werden. Im ersten Moment wollte Gabriel ablehnen, aber der harte Blick, welchen er von seinem Kunden erhaschte, ließ ihn erstarren. Gabriel konnte in seinen Augen sehen, dass dieser Mann es gewohnt war seinen Willen zu bekommen, egal auf welche Weise. Ihm blieb nichts anderes übrig als sich notgedrungen zu fügen.
Mit klopfendem Herzen öffnete er den Mund etwas und spürte wie der kühle Glasrand an seine Lippen gesetzt wurde. Dann trank er und war sich sicher, diesen Abend nicht zu überleben. Drogen hatte Gabriel nämlich noch nie genommen und das war garantiert keine gute Mischung, um einen Grünschnabel wie ihn nur zu lockern, oder lediglich abzuschießen. Aus Angst, die seinen Händen entglittene Situation noch zu verschlimmern, gehorchte er. Artig schluckte er den Alkohol und die Tabletten, während die dunklen Augen ihn weiter betrachteten. Die Wirkung schien schon nach Sekunden einzutreten und war nicht angenehm, sondern äußerst beunruhigend. Leichter Schwindel begann Gabriel zu erfassen.
„Sehr brav“, hörte er von Weitem, aber seine Sinne begannen bereits zu verschwimmen, dann spürte er wie sich alles zu entfernen begann, inklusive seines Körpers. Mit einer fahrigen Bewegung versuchte er sich gerade aufzusetzen, aber auch das misslang auf ganzer Linie. Das Letzte, was er wahrnahm, waren die fast schwarzen Augen, die ihn anstarrten und eine Stimme, die einem Echo gleich seinen Namen flüsterte.

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